Die Frage nach dem Muskelversagen treibt dir berechtigterweise Falten auf die Stirn – könnte es sogar kontraproduktiv sein?
16. Dezember 2022
von Franziska Schindler

Hilft viel wirklich viel?

Wie sinnvoll ist das Training bis zum Muskelversagen?

Das Verzagen am Versagen: Soll ich bis zur muskulären Erschöpfung trainieren oder soll ich’s lieber bleiben lassen? Wir klären ein für alle Mal, wie sinnvoll das Training bis zum Muskelversagen für den Aufbau wirklich ist und bereiten deinen „Versagensängsten“ ein Ende. Übertreibst du es womöglich?

  • Bis zum Muskelversagen zu trainieren, kann mit einer erhöhten Verletzungsgefahr, der Erschöpfung des zentralen Nervensystems, einer verlängerten Regenerationszeit und einer insgesamt größeren Ermüdung verbunden sein
  • Die Vorteile des Muskelversagens sind die Rekrutierung einer Vielzahl von Muskelfasern und die Gewissheit, eine hohe Trainingsintensität erreicht zu haben
  • Es deutet einiges darauf hin, dass das Training bis zum Muskelversagen nicht notwendig für und sogar kontraproduktiv beim Muskelaufbau sein kann – wenn überhaupt, solltest du es sparsam einsetzen

Training bis zum Muskelversagen sinnvoll?

Das Training bis zum Versagen aktiviert eine große Anzahl an motorischen Einheiten, gibt dir die Sicherheit, dass deine Trainingsintensität hoch genug ist und tut deinem Ego einfach gut. Doch das Muskelversagen hat auch eine Kehrseite – und die hat schon lange keinen Leg Day mehr gesehen! Bis zum Limit zu trainieren, führt insgesamt zu einer größeren Ermüdung. Diese musst du mit einer erhöhten Regenerationszeit kompensieren, andernfalls zieht sich der Erschöpfungszustand bis in deine nächsten Trainingseinheiten und behindert deine Fortschritte.

Wir machen dir klar, welche weiteren Nachteile es mit sich bringt und hinterfragen mögliche Vorteile. Denn wie so oft, ist auch beim Thema „Muskelversagen“ nicht alles schwarz und weiß. Zum Abschluss geben wir dir eine konkrete Anleitung, wie du im Gym nun am besten vorgehst. Um maximal aufzubauen, ist sie Gold wert – alles andere kommt für uns nicht infrage.

Was bedeutet eigentlich Muskelversagen?

Man unterscheidet zwischen zwei Hauptarten des Muskelversagens: das technische und das absolute. Technisch betrachtet, trainierst du bis zum Muskelversagen, wenn du keine weitere Wiederholung mit hundertprozentiger Sauberkeit mehr schaffst. Das absolute Muskelversagen tritt ein, wenn du über diesen Punkt hinaus trainierst. Du ergaunerst dir durch unsaubere Technik (Schwung, halber Bewegungsumfang etc.) weitere Wiederholungen, bis du das Gewicht keinen Zentimeter mehr bewegen und nicht einmal mehr statisch halten kannst.

Tipp: Da eine korrekte Übungsausführung der langfristige Weg zum Ziel ist und dich vor Verletzungen schützt, solltest du bei der Frage nach dem Sinn des Muskelversagens stets das technische im Hinterkopf behalten.

Du hast allerdings keine der beiden Formen des Muskelversagens erreicht, wenn du deinen Satz beendest, weil deine Muskeln stark zu brennen beginnen – auch wenn dir deine Arme womöglich etwas anderes erzählen. Dabei handelt es sich lediglich um eine Grenze in deinem Kopf, dein Körper ist an diesem Punkt oft noch lange nicht am Ende angelangt. Doch was spricht – neben dem Schmerz – eigentlich dagegen, über diese Grenze hinaus zu trainieren? Sich selbst zu besiegen, kann sich doch so gut anfühlen!

Diese Gründe sprechen gegen das Muskelversagen

Höhere Verletzungsgefahr

Du bewegst dich auf einem schmalen Grat zwischen „Das kann ich noch handhaben“ und „Ups, das war zu viel“, wenn du deine Sätze bis zum Muskelversagen ausreizt. Damit geht auch immer ein erhöhtes Verletzungsrisiko einher, vor allem wenn du fälschlicherweise das absolute und nicht das technische Versagen anstrebst. Das gilt in erster Linie für das Training mit freien Gewichten und für mehrgelenkige Übungen.

Man denke nur mal ans Bankdrücken. Sei ehrlich: Du kennst die Angst, von der Langhantel erdrückt zu werden. Wenn du jetzt bis zum Muskelversagen trainierst und das Gewicht bei der letzten Wiederholung allein nicht mehr kontrollieren kannst, sind das unschöne Ende und die Zwangspause programmiert.

Erschöpfung des zentralen Nervensystems

Beim Training mit maximaler Intensität ist dein zentrales Nervensystem ununterbrochen damit beschäftigt, deine Muskeln mit der nötigen Geschwindigkeit und Kraft reagieren zu lassen – es feuert deine Neuronen regelrecht an und verursacht hohen neurologischen Stress. Das Problem daran: Je mehr Signale gesendet werden, umso schwieriger ist es, wieder auf das Normlevel zurückzukehren. Ohne ausreichende Erholung kann die Ermüdung deines zentralen Nervensystems die Folge sein.

Damit einhergehen eine vorübergehende Desensibilisierung der Nebennierenrezeptoren und ein niedriger Dopaminspiegel. Dieser führt zu einem drastischen Rückgang der Motivation, Lethargie, Disziplinverlust, einer geringen Libido und vielem mehr. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um im Gym durchzustarten. Es kann Wochen und sogar Monate dauern, bis du dich von einer neuronalen Ermüdung erholt hast.

Verlängerte Regenerationszeit

Es konnte belegt werden, dass das Training bis zur kompletten Erschöpfung die Wiederherstellung der neuromuskulären Funktion, sowie des Gleichgewichts von Hormonen und Stoffwechsel verlangsamt – deine Regenerationszeit verlängert sich. So unterschieden sich in einer Studie die Marker für akute Müdigkeit (Ammoniak, Wachstumshormon) und verzögerte Müdigkeit (Kreatinkinase) vom Training bis zum Muskelversagen deutlich von denen für das Training ohne.

Die Protokolle deuten darauf hin, dass der Erholungsverlauf um 24 – 48 Stunden verlangsamt wird. Gönnst du deinem Körper dann nicht genug Ruhe, landest du schnell im Übertraining. Daraus resultieren unter anderem Schlafstörungen, eine erhöhte Infektanfälligkeit, ungewöhnlich starker Muskelkater und ausbleibende Fortschritte.

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Trainingsvolumen

Viele nehmen an, dass das Training bis zum Muskelversagen sinnvoll wäre, da es das insgesamte Trainingsvolumen steigere. Du setzt ja schließlich jedes Mal mit viel Überwindung eine Extra-Wiederholung oben drauf. Doch weit gefehlt! Wenn du dich bereits beim ersten Satz komplett verausgabst, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass du bei den Folgesätzen eine etwas kleinere Wiederholungsanzahl erzielst. Deinen Muskeln fehlt schlicht und einfach der Saft, um die anfängliche Bestleistung zu wiederholen.

Wenn du deinen Satz hingegen ein oder zwei Wiederholungen vor dem Muskelversagen beendest, behältst du eine konstante Leistung bei. Es wurde gezeigt, dass die Wiederholungsanzahl unterm Strich in beiden Fällen gleichbleibt. Die wahrgenommene Anstrengung und die wahrgenommenen Beschwerden wurden von den Probandinnen beim Training mit Muskelversagen aber als größer eingeschätzt. Das lässt es bei der Kosten-Nutzen-Analyse leider schlecht dastehen.

Du bist jedoch eine der Personen, die eine derartige Anstrengung als befriedigend empfinden? Kurz vor dem Muskelversagen aufzuhören, kannst du nicht mit deinem Kopf vereinbaren? Vielleicht kann dich der folgende Aspekt vorübergehend beruhigen!

 

Die Rekrutierung der Muskelfasern spricht für das Versagen

 

Die sogenannte mechanische Spannung ist der Haupttreiber des Muskelwachstums. Um diese zu begünstigen, solltest du während eines Satzes so viele Muskelfasern wie möglich rekrutieren. Je dichter du dich dem Muskelversagen annäherst, umso mehr motorische Einheiten werden rekrutiert. Das liegt an den verschiedenen Typen von Muskelfasern. Ihre Verteilung kannst du nicht beeinflussen, sie hängt von deiner Genetik ab.

Der langsam zuckende („slow twitch“) Typ 1 ist der Marathonläufer unter den Muskelfasern. Belastungen von mehr als 30 Minuten können ihm nichts anhaben, weil er überaus ermüdungsresistent und regenerationsfähig ist. Dafür besitzt er aber wenig Kraft, ein geringes Volumen, kontrahiert sehr langsam und – weist weniger Wachstumspotenzial auf!

Die schnell zuckenden („fast twitch“) Typ-2-Muskelfasern mit einem dickeren Volumen unterteilen sich in zwei Arten: 2a-Fasern ermüden langsam, kontrahieren relativ schnell und werden zumeist bei Belastungen unter 30 Minuten beansprucht (beispielsweise Mittelstreckenlauf). Der Typ 2b ist schnell kleinzukriegen, aber ist umso kraftvoller und zeichnet sich durch eine sehr hohe Kontraktionsgeschwindigkeit aus. Er ist für Belastungen unter 60 Sekunden zuständig, wie dem Gewichtheben.

Weil dein Körper intelligent ist, rekrutiert er vorrangig jene Muskelfasern, die eine geringe Reizschwelle besitzen und gleichzeitig am wenigsten Energie verbrauchen. Wenn du also beim Training viel Kraft aufwendest, versucht dein Körper zunächst, die Belastung mit den kleineren Typ-1-Muskelfasern zu bewältigen – vergeblich. Also werden mit zunehmender Reizschwelle – also dem Training in Richtung Versagen – mehr von Typ-2a und zuletzt -2b aktiviert. Diese großen motorischen Einheiten umfassen im Gegensatz zu den kleineren, zehntausende von Muskelfasern. Einen Satz erst nach dem Versagen zu beenden, rekrutiert folglich so viele motorische Einheiten wie möglich und ist aus Sicht der Muskelfasern sinnvoll für den Muskelaufbau.

Die „Theorie der effektiven Wiederholungen“

Daraus leitet sich die sogenannte „Theorie der effektiven Wiederholungen“ ab. Sie besagt, dass erst die letzten, richtig anstrengenden Wiederholungen deinen Körper zum Wachsen bringen. Einige Bodybuilding-Legenden waren bereits vor Jahrzehnten davon überzeugt. Arnold Schwarzenegger: „The last two, three or four repetitions is what makes the body grow. It devides the champions from the one not being a champion.” Selbst Mike Mentzer – der nicht alle Ansichten mit Arnie teilte – war derselben Meinung: „Carrying a set to a point where you are forced to utilize 100 percent of your momentary ability is the single most important factor in increasing size and strength.”

Mittlerweile lässt sich vermuten, dass die Effektivität der Wiederholungen in einer S-Kurve verläuft. Die Reps werden zwar zum Ende hin zunehmend stimulierender, aber mit den allerletzten Wiederholungen geht auch ein Plateau-Effekt einher. Angenommen, du absolvierst einen Satz à zwölf Wiederholungen bis zum Muskelversagen. Von der ersten bis zur siebten Wiederholung bleibt die Kurve noch flach – die Wiederholungen stimulieren den Muskelaufbau noch nicht maximal. Ab der achten Wiederholung steigt die Kurve steil bis zur neunten/zehnten an und verläuft bis zur zwölften wieder gerade.

In anderen Worten: Ob du deinen Satz nach der zehnten Wiederholung beendest oder noch zwei weitere Reps durchziehst, bis nichts mehr geht, macht für den Muskelaufbau nur einen sehr kleinen Unterschied. Ausschlaggebend ist, dass du nah genug bis ans Muskelversagen trainierst, um das Wachstum mithilfe der letzten „effektiven Wiederholungen“ zu maximieren. Wenn du ein bis zwei im Tank lässt („reps in reserve“), schützt du dich überdies vor den Schattenseiten des Versagens. Diese Erkenntnisse sind zwar kein klares Indiz gegen das Training bis zur muskulären Erschöpfung, aber ein Hinweis darauf, dass so viel Einsatz gar nicht nötig ist.

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Wiederholungen bis zum Versagen richtig einschätzen

Problematisch daran ist, dass viele nicht einschätzen können, wie viele Wiederholungen bis zur Ermüdung noch drin sind. Das Muskelversagen ist in diesem Fall ein Garant dafür, dass du hart genug trainierst. Wenn du den Satz zu früh beendest und deutlich mehr als ein bis zwei Wiederholungen in Reserve lässt, war er laut dieser Theorie in puncto Muskelaufbau für die Katz – überspitzt gesagt.

Mit Sicherheit weitet sich dein Blick gerade! Hier die guten Nachrichten: Es konnte gezeigt werden, dass Trainierende mit zunehmender Erfahrung im Kraftsport besser in ihrer Einschätzung werden. Während Neulinge (sechs Monate Erfahrung) die Zahl der Wiederholungen bis zum Muskelversagen noch um vier bis fünf unterschätzten, waren es bei Fortgeschrittenen (drei Jahre Erfahrung) im Durchschnitt nur noch ein bis zwei. Was beide gemeinsam haben? Sie stellen sich die alles entscheidende Frage, wie weit sie wirklich gehen sollen.

Muskelversagen womöglich kontraproduktiv?

Die Wissenschaft ist sich bis zum jetzigen Zeitpunkt uneinig darüber, ob sich das Training bis zum Muskelversagen positiv auf den Muskelaufbau auswirkt (2005, 2017) oder es keinen signifikanten Unterschied macht (2017, 2018). Eine der neueren Untersuchungen (2019) zu diesem Thema ergab sogar, dass es beim Verzicht auf das Muskelversagen zu einer größeren Hypertrophie kommt. Interessant ist, dass die befürwortenden Studien mit untrainierten Personen durchgeführt wurden, in den restlichen hatten die Probandinnen und Probanden eineinhalb bis acht Jahre Trainingserfahrung.

Ist das Training bis zum Muskelversagen nun sinnvoll? Im Großen und Ganzen ist es das nicht. Vieles deutet darauf hin, dass so viel Einsatz nicht notwendig ist und sogar kontraproduktiv sein kann. Unterm Strich verlangt es dir mehr Energie ab, als dass es dir Vorteile bringt – während des Sports und danach.

Das bedeutet aber noch lange nicht, dass du dich ab jetzt zurücklehnen kannst. Um ein anstrengendes Training kommst du für den Muskelaufbau nicht herum. Bis kurz vors Muskelversagen zu trainieren, sollte dir noch immer viel abverlangen. Das Ziel ist nicht, es dir so einfach wie möglich zu machen. Es geht vielmehr darum, mit Köpfchen zu trainieren! Wenn du also wirklich nicht aufs Muskelversagen verzichten möchtest, solltest du folglich smart und nicht nur hart trainieren und diverse Punkte beherzigen.

Muskelversagen sinnvoll und mit Bedacht einsetzen

Übungsauswahl

Mit dem Muskelversagen solltest du – wenn überhaupt – sparsam umgehen. Das gilt vor allem für die komplexen Grundübungen, weil sie aufgrund der Beteiligung zahlreicher Gelenke und Muskeln ohnehin zu einer größeren Erschöpfung führen. Absolviere sie zu Beginn einer Session und ohne Muskelversagen. Bei Isolationsübungen für die kleineren Muskelgruppen (vor allem Bizeps, Trizeps) können wir Entwarnung geben. Diese kannst du bedenkenlos ausreizen – da freuen sich deine XXL-Arme.

Zeitpunkt

Im Allgemeinen empfiehlt es sich, nur beim letzten Satz jeglicher Übung bis zum Muskelversagen zu trainieren und beim Rest kurz davor aufzuhören. Indem du ein bis zwei „reps in reserve“ lässt, bewahrst du dich davor, zu früh zu ermüden.

Regeneration

Ob mit oder ohne Muskelversagen, deine Regenerationszeit solltest du nie vernachlässigen. Zwischen deinen Trainingstagen sollten aber insbesondere jetzt mindestens 24 bis 48 Stunden vergehen. Auf diese Weise können sich deine Muskeln und dein zentrales Nervensystem von der Anstrengung erholen.

Ausnahmen

Eine Ausnahme stellt das Ende eines Trainingszyklus dar, auf den ein geplanter Deload folgt. Wenn du sicherstellst, dass du hinterher mindestens eine Woche mit drastisch reduzierter Intensität trainierst oder eine komplette Trainingspause einlegst, spricht nur noch wenig gegen das Muskelversagen. Sofern du es für nötig hältst, kannst du im Zuge der allerletzten Trainingswoche mehr als nur den letzten Satz einer Übung auf die Spitze treiben.

Das Muskelversagen ist bei zwei weiteren Ausnahmen sogar vonnöten. Beim High Intensity Training (HIT) brauchst du es, damit der Wachstumsreiz im Zuge des Ein-Satz-Trainings mit niedrigem Volumen hoch genug ist. Darüber hinaus hilft dir die muskuläre Erschöpfung dabei, den Muskelaufbau zu stimulieren, wenn du mit sehr leichten Gewichten trainierst.

Fazit: Das Muskelversagen verlangt dir während des Trainings und danach viel Energie ab und führt zu einer größeren Erschöpfung. Jene kann sich kontraproduktiv auf deine Gains auswirken. Um diesen und weitere Nachteile zu minimieren, solltest du es – wenn überhaupt – beim letzten Satz einer Übung einbauen und eine erhöhte Regenerationszeit einplanen. Doch dich derartig zu verausgaben, scheint unterm Strich nicht notwendig für den Muskelaufbau zu sein. Das Versagen hat also das Potenzial, dich zur Versagerin oder zum Versager zu machen. Beim Krafttraining hilft viel eben nicht immer viel!